Norbert Lingen

Autor

Leseprobe


3.6 Rosa stellt sich ihrem Monster

Papa holt Rosa abends bei Oma und Opa ab. Rosa sagt nichts über ihr aufschlussreiche Gespräch mit Opa. Sie verrät auch nicht ihren Plan, diese Nacht etwas gegen ihr Monster zu unternehmen. Sie essen abends gemeinsam, Mama, Papa, Cora und sie. Danach spielen Cora und sie noch ein klein wenig, bis Rosa ins Bett muss. Diesmal macht sie kein Verzögerungstheater, sondern geht, auch wenn sie ein mulmiges Gefühl hat, zügig ins Bett. Mama und Papa freuen sich, dass Rosa diesmal so folgsam ist. Sie schauen sich an und wundern sich schon ein wenig über ihre schon große Tochter.
Rosa geht die Treppe hoch und überquert mit ein klein wenig Angst ihre Türschwelle. Sie lässt die Türe vorsichtshalber offen, falls sie überstürzt fliehen muss. Alle Lichter in ihrem Zimmer werden eingeschaltet und Rosa macht sich zuerst einmal bettfertig. Sie entledigt sich ihrer Kleider, die wie immer auf dem Boden ihres Zimmers landen. Mit T-Shirt und Unterhose bekleidet, das ist ihre Schlafbekleidung, geht sie ins Bad und putzt ihre Zähne, ganz kurz und mit einem Hauch Zahnpasta. Dann geht sie in ihr Zimmer. Es ist taghell beleuchtet. Noch hat Rosa kein Nachtgefühl, so dass sie ein wenig Mut zusammennimmt, mehr braucht sie jetzt noch nicht, und sich auf den Boden legt. Sie schaut unter ihr Bett. Sie kann alles erkennen, denn das Zimmerlicht ist sehr hell. Was sieht sie? Sie entdeckt als erstes die Leggins, die sie heute Morgen gesucht hat. Noch einige andere Klamotten, Spielsachen, Malstifte und das Übrige, was Mädchen in ihrem Zimmer herumfliegen lassen, stören nicht weiter. Ein Monster ist jedenfalls nicht zu sehen. Sie atmet auf.
Rosa setzt sich auf die Bettkante und muss noch etwas mehr Mut sammeln, bevor sie das Deckenlicht ausschaltet. Dann erhellen nur noch ihr beleuchteter Schriftzug oben an der Wand und ihr kleines Nachttischlämpchen ihr Zimmer. Jetzt ist es bedeutend dunkler. Sie huscht schnell unter ihre Decke, nimmt ihr Buch und kuschelt sich wie immer in ihr Kissen. Sie beginnt zu lesen. Langsam kommt sie zur Ruhe und versinkt ganz in ihre Geschichte. Den Stress mit dem Monster hat sie jetzt völlig vergessen. Doch plötzlich wird sie aus ihrer Geschichte gerissen. Zuerst nur eine kleine Irritation, so wie eine Fliege auf der Nase, die man wegstreicht. Sie verliert kurz den Faden in ihrer Geschichte, findet ihn jedoch gleich wieder und sie schreckt schon wieder auf. Hat sie das ihr so gut bekannte Geräusch gehört? Urplötzlich ist die schöne Stimmung verschwunden und ihr läuft es eiskalt den Rücken herunter. Ihr Monster ist da. Sie lässt ihr Buch sinken und ist gelähmt vor Schreck. Da, es klopft wieder, jetzt etwas lauter. Das Geräusch kommt eindeutig von irgendwo unter ihrem Bett. Jetzt fühlt sie sich gar nicht mehr wohl, trotz ihrer Decke. Unter ihrer Matratze sitzt ein Monster und diese Matratze ist nicht besonders dick. Sie ist versucht aufzuspringen und wegzulaufen, die Treppe hoch und in Papas Bett. Doch sie kann ihren Mut noch einmal steigern, sie will schließlich heute das Monster besiegen. Dann lässt der Mut wieder etwas nach und sie sagt sich, das könne sie ja morgen auch noch machen, jetzt lieber zu Papa.
Nach einigem hin und her bleibt sie zunächst einmal standhaft. Ihr Atem geht jetzt stoßweise und sie hat eindeutig Angst, große Angst. Doch bevor sie in Panik übergeht reißt sie sich zusammen:
„Ich will mein Monster heute besiegen“, sagt sie sich und noch einmal, „Ich will mein Monster heute besiegen.“
Das hat ein wenig geholfen. Sie beruhigt sich, bis sie das böse Geräusch erneut hört und heftig zusammenfährt. Sie drückt sich unter der Decke an ihr Kissen und erstarrt. Sie will nicht weglaufen, so viel Mut hat sie schon zusammen, aber unter das Bett zu schauen, soweit ist sie noch nicht. Sie liegt regungslos und hört erneut das Geräusch. Es wird immer bedrohlicher, nicht lauter aber es kommt näher, von unten. Sie denkt an Opa, der sich schließlich auch getraut hatte einfach aufzustehen. Sie reißt sich zusammen. Ein heftiger Ruck geht durch ihren Körper. Sie strafft sich und ruft laut:
„Jetzt oder nie!“, und springt aus ihrem Bett, lässt sich herunterfallen und liegt vor dem Bett flach auf dem Boden. Der freie Blick unter das Bett offenbart ihr vielleicht das Geheimnis.
Es geht alles so schnell, sie hat überhaupt keine Zeit noch mehr Angst zu bekommen. Ob sie wirklich laut gebrüllt hat, kann sie später nicht mehr sagen. Es ist jedenfalls niemand im Haus wach geworden, in dieser denkwürdigen Nacht, als Rosa ihr Monster besiegen will.
Der ängstliche Blick unter ihr Bett, ihr Herz klopft gewaltig, doch die Neugierde scheint ihre Angst zu überflügeln. Es ist dunkel unter ihrem Bett und sie kann zunächst nichts erkennen. Um besser sehen zu können, müsste sie ihre Sachen unter dem Bett beiseiteschieben, doch sie sagt sich:
„Zuerst einmal nur schauen, anfassen kannst du später.“
Für mehr reicht der jetzt gesammelte Mut noch nicht. Also strengt sie ihre Augen an und versucht das Dunkel unter dem Bett zu durchdringen. Die Augen passen sich langsam der Dunkelheit an. Das hat sie in der Schule gelernt, als sie die Augen durchgenommen haben. Sie wartet mit hämmerndem Herzen und tatsächlich, langsam dringt ihr Blick immer tiefer in die grausige Dunkelheit. Da, sie erstarrt, sie sieht zwei leuchtende kleine Punkte. Das könnten die Augen einer ihrer Rennmäuse sein, die oben im Glasterrarium leben. Die beiden Punkte bewegen sich.
„Sitzt dort etwa eine Maus?“, denkt Rosa fast erleichtert, dann habe ich gar kein Monster unter dem Bett.
Sie will schon erleichtert aufstehen und oben im Terrarium nachsehen, ob eine Maus ausgebüchst ist, doch dann hört sie wieder das beängstigende Geräusch. Sie schreckt zusammen. Das stammt niemals von einer Maus. Es klingt wie ein bedrohliches Knurren und Schmatzen ganz tief und langandauernd, sehr gefährlich. Rosa ist kurz davor aufzuspringen und wieder in ihr Bett unter die schützende Decke zu schlüpfen. Doch dazu hat sie nicht ihren ganzen Mut zusammengenommen und strengt ihren Blick wieder an, etwas mehr zu erkennen.
Und tatsächlich, langsam schält sich ein Umriss aus der Dunkelheit heraus. Eine Maus sieht anders aus. Es muss eine aufrechte Gestalt sein. Kopf, Beine, Arme sind zu erkennen und sie bewegen sich nicht. Sie ist nicht groß, Rosas Größe erreicht sie bei weitem nicht. Es könnte ein Zwerg, ein Heinzelmännchen, ein Gnom oder Pumuckl sein. Rosas Herzschlag lässt merklich nach. Vor so einem kleinen Winzling muss sie sich wohl nicht fürchten. Doch das knurrende Geräusch, das plötzlich wieder zu hören ist, spricht eine andere Sprache. Rosa schießen Märchen und Geschichten durch den Kopf, in denen gerade die Kleinen die gefährlichsten oder schlauesten waren. Ihr Verstand hämmert ihr ein:
„Sei vorsichtig!“
Ihr Herz sagt:
„Ach sei nicht so ängstlich, was soll dir ein kleiner Wicht wie dieser schon antun?“
Rosa ist hin- und hergerissen, doch dann kriecht sie unwillkürlich näher heran. Ihre Neugierde hat gesiegt. Noch ein paar Zentimeter und sie hört eine gefährlich klingende tiefe Stimme:
„Kein Stück weiter, sonst passiert was!“
Rosa erschrickt sich fast zu Tode und erstarrt in ihrer Bewegung. Hat sie das wirklich gehört oder ist sie etwa wieder eingeschlafen und träumt das nur? Sie kneift sich kurz in ihre Hand. Das macht man, wenn man prüfen will, ob man schläft oder wach ist. Das hat sie jedenfalls gelesen. Ihr Bewusstseinszustand hat sich durch das Kneifen nicht verändert. Sie ist nicht wach geworden. Also ist sie wach und was sie sieht und hört wirkt vollkommen echt.

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