Norbert Maria J. Lingen

Autor

Leseprobe Hannes und Julius

8     Die Prozession

Opas Garten hinter dem Haus ist mit Johannesbeer- und Stachelbeersträuchern bepflanzt. Opa baut dort Kartoffeln, Stangenbohnen und anderes Gemüse an. Er hat auch ein Anzuchtbeet mit Glasdeckeln, die er aus alten Fenstern selbst gebaut hat. Dort wachsen die Gurken.

Neben dem geraden Weg sind rechts und links die Beete angelegt. Der Weg führt vom Stall bis zum hinteren Zaun, wo auf der linken Seite der Komposthaufen ist. Dort wachsen jedes Jahr bunte Tausendschön. Dieser Name erinnert Hannes immer an das Märchen Schneeweißchen und Rosenrot. Warum weiß er auch nicht.

Der Weg ist von Anfang bis Ende von einem wunderschönen Blumenbeet flankiert. Hier wachsen Gänseblümchen, Bellies, Vergissmeinnicht, Tagetes, Ranunkeln, Tulpen, Narzissen und viele andere Blumen. Die Blumen sind Opas ganzer Stolz.

Hannes und Julius sind Messdiener in der Pfarrei Maria Himmelfahrt Neuwerk. Sie müssen sonntags immer ministrieren und auch häufiger werktags bei Beerdigungen oder in der Schulmesse ihren Dienst tun. Was das nun mit den Blumen im Garten zu tun hat, wird sich gleich zeigen.

Hannes wollte immer schon Messdiener werden. Schon als Kindergartenkind hatte er an der Fronleichnamsprozession als Schellemännchen mitgewirkt. Die kleinen Jungs bekamen einen lila Talar übergezogen und eine kleine Glocke in die Hand gedrückt. Während der Prozession durften sie so kräftig sie konnten ununterbrochen schellen. Das durften sie sonst nie. Deshalb war dieser Posten bei den Kleinen sehr gefragt. Später als Hannes etwas älter war, konzentrierte sich seine Energie auf höhere Aufgaben. Zum Beispiel war bei den etwas älteren Kindern das Tragen des Lamms äußerst begehrt. Eine wunderschön bemalte Lammfigur aus Gips wurde auf ein Tuch aus rotem Samt gelegt und von einem Kind mit der Prozession getragen. Das Lamm hat Hannes nie tragen dürfen.

Später als Messdiener war es das Kreuz, das ein Messdiener in der Prozession vorneweg trug. Auch das hat Hannes nie geschafft. Später zu diversen Beerdigungen auf dem Neuwerker Friedhof wird ihm diese Ehre als Messdiener dann häufiger zuteil.

Als Hannes älter ist wird er auch Mitglied des Jugendblasorchesters der Pfarrei. Er bläst das Tenorhorn. Nach einigem üben kann er jetzt die wichtigsten Stücke, so dass er sowohl in der Fronleichnamsprozession als auch bei den Martinszügen als Mitglied des Blasorchester mitmarschiert.

Hannes glaubt auch ganz stark an Gott. Er ist immer neidisch auf die Kinder, die schon mit zur Kommunion gegangen sind. Denn die dürfen sich in der heiligen Messe vorne am Altar die heilige Hostie holen. Er stellt sich die Kommunion als besonders heilig vor und ist überzeugt davon, dass er etwas Besonderes spüren müsste, wenn er die Hostie in den Mund bekäme und herunterschluckte. Nachdem er vor einem Jahr auch zur Kommunion gegangen ist, ist er doch einigermaßen enttäuscht. Nichts Heiliges hat er gespürt. Am Anfang meint er immer, etwas Wärme in der Herzgegend zu fühlen. Aber wahrscheinlich hat er sich das eingebildet.

Besonders beeindruckend findet Hannes auch die Fahnen bei der Prozession. Mama ist Mitglied im Mütterverein und hat im letzten Jahr die Fahne des Müttervereins getragen. Die Vereine und Bruderschaften in Neuwerk besitzen eigene Fahnen, die anlässlich hoher kirchlicher Feste in der Kirche aufgestellt oder herumgetragen werden.

Maxie, Hannes Schwester, darf seit ihrer Kommunion im weißen Kommunionkleid als Streuengelchen mitgehen. Sie streut Blütenblätter auf den Zugweg. Besonders beeindruckend sind auch die Blumenaltäre am Prozessionsweg. Bunte Heiligenbilder aus Blütenblättern sind an den Gebetsstationen auf dem Boden ausgelegt.

Es ist kein Wunder, dass zu der Zeit Hannes’ größter Wunsch ist, Priester zu werden. Er geht sogar noch weiter und erzählt Oma immer wieder, dass er Missionar werden wolle. Er hat auch das ein oder andere spannende Buch über die abenteuerlichen Erlebnisse echter Missionare in Afrika gelesen. Oma ist als gläubige Katholikin besonders stolz auf ihren Enkel und unterstützt seine Ambitionen in dieser Hinsicht besonders. Oma bringt ihm von einer Pilgerfahrt aus Kevelaer zwei kleine Kerzenleuchter mit. Die anderen Utensilien sucht Hannes sich in Omas Küche zusammen. Er baut sich einen Altar auf Omas Schallplattenschrank im Wohnzimmer auf. Das Standkreuz aus dem Schlafzimmer, ein weißes Deckchen, die Kerzenleuchter aus Kevelaer, ein metallener Eierbecher als Kelch und das Glöckchen von Weihnachten vervollständigen die Altarausstattung. Omas Gebetbuch als Messbuch und schon wird heilige Messe gespielt. Hannes hängt sich eine Decke als Talar um, ein Schal dient als Stola und er ist der Priester. Julius, Uli, Maxie und Oma spielen die Gemeinde. Hannes betet vor. Die Gemeinde antwortet. Sie singen fromme Lieder und Oma ist immer ganz ergriffen.

So spielen sie öfter in Omas Wohnzimmer heilige Messe. Eines Tages als Oma und Opa nicht zu Hause sind, kommen Hannes, Julius, Kalli und Maxie auf die Idee einen besonderen Feiertag nachzuspielen.

„Wollen wir nicht einmal Fronleichnamsprozession spielen?“, fragt Hannes.

Alle sind spontan begeistert:

„Was sind wir?“, und alle vier brüllen im Chor:

„Ein tolles Team“, und schlagen die Handflächen aneinander.

Als Zugweg wählen sie den Gartenweg hinter dem Haus. Hannes als Priester hängt sich eine Decke als Talar und den Schal als Stola um. Oma besitzt eine prächtige goldene Blumenvase, die sich die Kinder als Monstranz ausleihen. Kalli bekommt einen Schrubber in die Hand gedrückt, den er falsch herumträgt und über die Bürsten den zugehörigen Putzlumpen als Fahne hängt. Maxie als Streuengelchen benötigt Blütenblätter. Hannes weiß Rat und holt Opas Blumenschere aus dem Stall. Maxie hat schon einen Korb besorgt, den Oma immer zum Einkaufen benutzt. Hannes geht mit der Blumenschere den Weg entlang und jetzt kommen die beschriebenen wunderschönen Blumen in den Beeten entlang des Gartenweges ins Spiel. Hannes schneidet von allen blühenden Blumen die Köpfchen ab, bis Maxie einen prallvollen Korb mit Blütenblättern hat.

Jetzt stellen sie sich auf und schreiten feierlich den Gartenweg entlang. Vorneweg streut Maxie Blütenköpfe. Ihr folgt der Fahnenträger Kalli und dann Hannes der Priester, der seine Monstranz hochhält und der Gemeinde zeigt. Dahinter schreitet Julius als Gemeinde.

Mit „Vater unser im Himmel“, „Gegrüßet seist du Maria“ und „Großer Gott wir loben dich“ gehen sie auf einem wunderschönen Blumenteppich. Eine schönere Prozession hat Neuwerk noch nicht gesehen.

Als das Spiel zu Ende und die heilige Verklärung von den Kindern abgefallen ist, kriegen sie doch einen Riesenschrecken, als sie die verwüsteten Blumenbeete längs des Gartenweges sehen. Das würde Opa gar nicht gefallen. Oma hat wahrscheinlich Verständnis, weil sie schließlich etwas ganz Frommes gespielt hatten.

Tatsächlich hat Opa fürchterlich geschimpft aber Hannes konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, dass Mama und Papa sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen konnten und auch Oma eigentlich gar nicht so wütend war.

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