Norbert Lingen

Autor

Leseprobe

 

Prolog


Das Büro ist riesig und gepflegt. Teures Parkett und eine Wandvertäfelung aus edlem Holz machen Eindruck. Der eigenartig große, weiße Tisch prunkt mitten im Raum auf einem seidenen Orient-teppich enormen Ausmaßes.

Al Patrone würde über sein eigenes Büro lästern: „Hier stinkt es nach Geld.“
Sein Schreibtisch steht erhöht auf einem Podest am Ende des Raumes. Wenn Al Patrone in seinem Sessel hinter dem massigen Tisch thront, schaut er auf seine Besucher herab wie ein König auf seine Untertanen. Das ist kein Zufall. Seine Gäste sollen sich klein und unwürdig vorkommen im Angesicht des berühmt berüchtigten Gangsterbosses.
Die Mitte des Raumes bildet der Luxustisch mit jeweils drei Ses-seln an den Seiten und einem Polstersessel am Kopfende. Hier fin-den die Sitzungen der Bosse des Syndikats statt. Deren Prinzipal ist Al Patrone. Das Syndikat „Die Loge“ kontrolliert den größten Teil der Welt. Sein größtes Ziel ist die Vernichtung der Einhörner, um die vollständige Herrschaft in der Einhornwelt zu erlangen. Al Patrone versteht die Einhörner nicht. Sie sind friedfertig und nutzen nur das, was sie wirklich benötigen. Sie streben weder nach Macht noch nach Wohlstand, einfach vollkommen unverständlich. Aus seiner Sicht ist das die größte Verschwendung. Wenn sie ihre natürlichen Reichtümer nicht nutzen wollen, schädigt er niemanden, indem er sie ihnen nimmt. Es stört ihn übrigens nicht, jemandem zu schaden. Dazu ist er schließlich Gangster.
Heute trifft er sich mit seiner besten Kraft. Donna Leone, respektvoll „das Zauberwaldwesen“ genannt, hat außergewöhnliche Fä-higkeiten. Sie ist für ausgefallene Aufgaben zuständig. Als Al Patrones Stellvertreterin sitzt sie neben ihm. Natürlich ist ihr Sessel ein wenig kleiner als der des Gangsterbosses. Sie erscheint zu den Sitzungen als hübsche blonde Schönheit. Dieses Aussehen nutzt sie, um ihre Opfer in den Zauberwald oder in ihr Haus zu locken. Ihre wahre Gestalt ist kaum zu beschreiben. Sie kann jede Form des Zauberwaldes annehmen, von einem knorrigen Baum bis zum kleinsten Waldmäuschen. Ihre liebste Kreatur ist die Hexe. Die klassische Hexe aus dem Märchen mit verkrümmten Fingern und auffälligem Buckel. Die schwarze Katze auf der Schulter tut ihr Übriges, kleine Einhörner oder Kinder zu erschrecken.
Heute sitzen Al Patrone und Donna Leone zu zweit zusammen. Sie haben geheime Verabredungen zu treffen. Der Plan zur Vernichtung der Einhörner ist gereift. Donna Leone will ihren Beitrag leisten. Sie wird einen Einhornkontinent mit dem Zauberwald verseuchen und die dort lebenden Einhörner hineinlocken. Wären sie erst einmal im Wald gefangen, könnten sie nicht mehr entrinnen. Die Zauberwaldhexe fräße sie allesamt. Bei ihrem riesigen Appetit rechnet Donna Leone damit, das Problem der Einhörner in einem halben Jahr gelöst zu haben. Dann wird keines dieser friedlieben-den und bescheidenen Wesen mehr im Wege stehen.
Al Patrone und Donna Leone geben sich die Hände. Sie besiegeln ihren verruchten Pakt zur Vernichtung der Einhörner.
„Lass dich nicht durch deine Gier leiten. Bleibe kühl und gelassen. Mache keine Dummheiten!“, rät Al Patrone mahnend zum Schluss.
Donna Leone schießt einen pfeilschnellen, bitterbösen Blick auf Al Patrone. Solche Blicke können töten. Doch im letzten Augenblick reißt sie sich zusammen. Er wird schon sehen, wer am längeren Hebel sitzt.

Die Einhörner ahnen nichts von der heraufziehenden Gefahr und widmen sich sorglos ihrem friedlichen Leben. Doch sind die Ein-hörner und ihre Freunde so wehrlos, wie Al Patrone und Donna Leone meinen?


Die Einhornstraße


Die Geschichte von Emma und Lisa nimmt ihren Anfang in Erlan-gen, einer modernen Großstadt in Franken, deren Altstadt so man-ches Geheimnis birgt.
Emma wohnt mit ihren Eltern und ihrer Schwester Cora in einer Doppelhaushälfte mit vielen Zimmern und einem kleinen Garten.
Sie ist ein Mädchen, das alle spontan „süß“ nennen, da sie etwas kleiner ist als andere Kinder in ihrem Alter. Sie hat große dunkle Augen und lange, glatte, hellbraune Haare, die fast bis auf die Hüften reichen. Obwohl sie erst in die dritte Klasse gekommen ist, schmökert sie am liebsten in ganz dicken Büchern. Jeden Abend, wenn sie ins Bett geht, kuschelt sie sich unter ihre Decke und liest spannende oder lustige Geschichten. So hat sie eine lebendige und unendliche Phantasie entwickelt. Auch wenn eines ihrer Markenzeichen ihr ansteckendes, offenes und fröhliches Lachen ist, ist sie eher ein schüchternes und zurückhaltendes Mädchen, ganz im Ge-gensatz zu ihrer besten Freundin Lisa.
Lisa ist lebhaft, neugierig auf die Welt und weiß was sie will, von Schüchternheit keine Spur. Sie wohnt mit ihren Eltern und ihrem Bruder Noah im gleichen Haus wie Emmas Großeltern, ja sogar in derselben Etage, oben im dritten Stock. Beide Wohnungen sind sich genau gegenüber. Wenn Emma bei Oma und Opa schläft, was oft vorkommt, trifft sie Lisa häufig. Emma hat bei ihren Großeltern ein eigenes Zimmer. So sagt sie immer, sie hätte zwei Zuhause, eines bei Oma und Opa und eines bei Mama, Papa und Cora.
Die zwei Freundinnen gehen nicht auf die gleiche Schule, sodass sie sich immer nur nach dem Unterricht oder am Wochenende tref-fen. Lisa ist genauso alt wie Emma und etwas größer als sie. Sie hat blonde Haare und grüne Augen.
Wenn Emma und Lisa wüssten, was sie gemeinsam erleben werden, hätten sie es nicht für möglich gehalten. In Erlangen gehen Dinge vor, die außerhalb des Vorstellbaren sind. Die zwei Freundinnen würden heute sicher auf einen Teil der kommenden Aben-teuer verzichten wollen, aber bestimmt nicht auf alles.
Emma verbringt den Nachmittag mit ihrem Opa. Sie genießt es sehr, mit ihm durch die Innenstadt zu spazieren, am meisten, wenn er dabei spannende Geschichten erzählt.
„Heute möchte ich dir eine ganz besondere Straße zeigen“, eröffnet Opa Emma.
Das macht das neugierige Mädchen erwartungsvoll: „Gehen wir vielleicht etwas einkaufen?“
„Nein, nein“, winkt Opa ab, „wir gehen in die Einhornstraße.“
Emma macht große Augen und glaubt es kaum, dass eine solche Straße in Erlangen existiert.
„Das Beste an der Einhornstraße ist, dass du dort ein Einhorn fin-den kannst.“
Emma bleibt abrupt stehen. „Aber doch kein echtes, oder?“
„Zumindest kann man es anfassen“, schmunzelt Opa, zufrieden dass er Emmas Neugier geweckt hat.
Sie biegen in die kleine, ruhige Einhornstraße ein. Die Straße ist kurz und hat ihren ganz eigenen Zauber. Die kleinen, verschrum-pelten Häuser sind schmal. Simse, Balken und Stuck zieren die schiefen und runzeligen Fassaden. Emma fühlt sich schlagartig in eine andere Welt versetzt. Zusammen mit ihrem Opa lässt sie sich von der mystischen Stimmung der Straße einfangen.
„Du hast recht, Opa. Diese Straße ist wirklich besonders“, staunt sie.
Ihr Opa beugt sich zu ihr hinunter und flüstert: „Die meisten Menschen hasten durch diese Straße hindurch, wie durch jede andere. Sie bemerken nichts von ihrem Zauber und ihrem Geheimnis. Die Einhornstraße entfaltet ihre Magie nur für die Eingeweihten und Sensiblen.“
Langsam schlendern sie weiter. Die Hektik des Tages ist vergessen. Sie haben alle Zeit der Welt und schauen sich die hutzeligen Häuser an. Sie passieren den Eingang des Gewürzlädchens. Er ist mit hellgrün gestrichenen, schnörkeligen, Pfeilern geschmückt. Dann stehen sie unvermittelt vor der etwas schäbigen, zweiflügeligen und niedrigen Eingangstür des Hauses Einhornstraße Nummer fünf.
Hier entdeckt Emma, in Höhe des Türgriffs, tatsächlich einen faustgroßen Einhornkopf. Er wirkt etwas gedrungen, die Ohren sind mittelgroß und die Nüstern ebenmäßig. Auffällig ist das gewundene einzige Horn mitten auf der Stirn des Schädels. Im Gegensatz zum restlichen Kopf glänzt das Horn golden in der Sonne. Es ist blank poliert von den vielen Händen, die es im Laufe der Jahre angefasst haben.
Auch Emma muss den Einhornkopf instinktiv berühren. Sie streicht mit beiden Händen darüber, befühlt ihn genau, fährt mit ihren Fingern an dem gewundenen Horn entlang und stutzt, als sie den Bart am Unterkiefer des Kopfes ertastet. „Das ist ja eine Ziege, ein Ziegenkopf mit Ziegenbart!“, stellt sie etwas enttäuscht fest. „Das ist doch kein echtes Einhorn, dann müsste es einen Pferdekopf haben.“
Erneut beugt sich ihr Opa zu ihr hinab. „Guck mal genau hin, das ist ein Pferdekopf, auch wenn er einen kleinen Bart hat.“
Emma inspiziert den Kopf nochmals und ist nicht wirklich über-zeugt.
„Du hast wahrscheinlich noch nicht gewusst, dass Einhörner früher auch als junge Ziegen mit einem Horn dargestellt wurden?“, fragt Opa.
„Das glaube ich nie im Leben!“ Emma schüttelt ihren Kopf und tritt einen Schritt zurück.
„Doch, doch“, lacht Opa, „früher wurde ein Einhorn auch mal wie ein Auerochse oder ein Nashorn dargestellt. Das Einhorn als edles, weißes, anmutiges Pferd mit einem Horn auf der Stirn hat sich erst im Laufe des Mittelalters durchgesetzt.“
Emma zweifelt, ist aber nicht mehr völlig überzeugt von ihrer Meinung. Opa meint scherzend, dass es sich hier um eine Mischdarstellung von Pferd mit Ziegenbart und Horn auf dem Kopf handelt. Das findet Emma gar nicht lustig. Einhörner sind für sie und Lisa eine ernste Sache.
Wie viele Kinder sind auch sie fasziniert von Einhörnern. Emma hat Poster mit beeindruckenden weißen Einhörnern, die wie Traumwesen aussehen, in ihrem Zimmer an der Wand hängen, genau wie Lisa. Die beiden Freundinnen lesen alles, was sie über Einhörner in die Finger bekommen. Sie kennen Filme und Serien, ja sie haben sogar Einhörner in ihren Zimmern. Natürlich sind sie nicht echt, nur Nachbildungen aus Plastik, Plüsch und Holz.
Emma lässt nun ihren Blick über die Fassade schweifen. Das Haus Nummer fünf ist ein altes geheimnisvolles Gebäude, das sicher einige hundert Jahre alt sein muss. Sie nimmt mit allen Sinnen wahr, dass von diesem Haus etwas Besonderes ausgeht. Es übt eine mächtige Anziehungskraft auf sie aus, die sie so noch nie erlebt hat. Emma nimmt sich vor, in Zukunft diese Straße und dieses Ge-bäude häufiger zu besuchen. Und sie muss das Einhorn, sei es nun Ziege oder Pferd, unbedingt Lisa zeigen. Das Haus Nummer fünf in der Einhornstraße muss genauer unter die Lupe genommen wer-den. Man kann nie wissen, was in einem solchen Anwesen alles vorgeht. Vielleicht wirkt hier sogar die Magie der Einhörner?
Was wissen wir über Einhörner?
Wenig später sitzen Emma und Opa gemeinsam mit Lisa in Em-mas Zimmer und Opa hält ein Buch in der Hand. Er liest aus „Emmi & Einschwein 1, Einhorn kann jeder!“. Emma lümmelt auf dem Sofa, Lisa liegt unter dem Tisch. Beide hören mit träumerischem Blick aufmerksam zu und verschlingen jede Silbe. Als Opa beim Vorlesen der Geschichte Einhörner erwähnt, werden die bei-den Mädchen schlagartig lebhaft.
„Opa, kannst du uns bitte etwas über Einhörner erzählen?“, bettelt Emma.
Opa legt das Buch beiseite und wackelt nachdenklich mit dem Kopf hin und her: „Ich bin kein Einhorn-Spezialist. Aber das ein oder andere habe ich schon von Einhörnern gehört. Als ich so alt war wie ihr, wurde nie über Einhörner gesprochen. Damals waren sie so geheimnisvoll, dass man sie niemals erwähnte. Zu meiner Zeit waren es Märchen, in denen manchmal Einhörner vorkamen. Aber sonst hörte man nur von Kasperl und Seppel, Pipi Langstrumpf, Jim Knopf, Seeräuber wie John Silver oder Ritter wie Richard Löwenherz oder Ivanhoe“, erklärt Opa etwas umständlich. „Einhörner sind stolze Geschöpfe mit magischer Ausstrahlung. Sie sind unnahbar und doch vertraut. Niemals tun sie sich mit anderen lebenden Wesen zusammen. Sie sind immer einsam und geheimnisvoll, unsichtbar und doch wunderschön.“
Emma und Lisa nicken begeistert. Bis hierhin stimmen sie Opa ohne Widerspruch zu.
„Ihre Existenz scheint vollkommen frei zu sein“, fährt Opa fort, „sie haben keine Aufgaben. Sie sind nicht Teil des Ökosystems, geschweige denn einer Nahrungskette.“
Emma wendet ein: „Was heißt das, Teil einer Nahrungskette?“
„Na ja“, überlegt Opa, „alle Tiere sind Teil einer Nahrungskette im Ökosystem. Zum Beispiel gibt es Bakterien, die für den fruchtbaren Boden sorgen. In dieser Erde ernähren sich Pflanzen von ihnen, die wiederum von Raupen verspeist werden. Die Raupen dienen als Nahrung für Frösche, die dann von Raubvögeln gefressen wer-den. Soweit bekannt ist, frisst ein Einhorn nicht und es wird von niemandem gejagt. Deshalb gehört es nicht zur Nahrungskette und existiert außerhalb des Ökosystems, wie das für alle magischen Geschöpfe zutrifft. Sie sind jedenfalls nicht Teil unserer Welt.“
Emma nickt, auch Lisa wartet zustimmend auf Opas Fortsetzung.
„Wären Einhörner nicht so außerordentlich bezaubernd, niemand hätte sie bis heute bemerkt. Man sagt ihnen allerlei gute Eigenschaften und Taten nach. Sie heilen angeblich Kranke oder erfüllen Wünsche. Sie verbreiten Glück und Frieden. Sie haben eine äußerst wirksame Tarnung entwickelt, denn sie sehen aus wie Pferde. Ein schneller Blick wird nur ein harmloses und normales Pferd erken-nen.“
Emma denkt an ihren Besuch in der Einhornstraße Nummer fünf und fragt neugierig: „Aber was ist denn mit der Ziegengestalt?“
„Na, die Tarnung als Ziege funktioniert doch genauso gut wie bei einem Pferd, oder meinst du nicht?“ Opa zwinkert seiner Enkelin zu. Lisa nickt zögernd, ist jedoch nicht überzeugt.
Beide Mädchen haben sich nun aufgesetzt und lauschen gebannt Opas Erzählungen.
„Um diese Traumwesen ranken sich viele Geschichten. Sie kommen in Märchen vor, zum Beispiel muss das Tapfere Schneiderlein als Mutprobe ein Einhorn fangen. Auch deshalb sind sie Traumwesen, weil man bislang nur über sie lesen und hören, sie jedoch nicht sehen konnte.“
„Aber gibt es denn Einhörner jetzt in Wirklichkeit oder nicht?“, fragt Emma.
„Ein Nachweis von Einhörnern ist bisher nicht gelungen. Wenn sie jemals existiert hätten, müsste man Knochen von Einhörnern finden. Nur Nashörner oder auch Narwale sind eindeutig als Tiere mit einem Horn bekannt“, antwortet Opa. „Aber an magische Kreaturen mag man glauben oder nicht. Einhörner sind jedenfalls Wesen mit erstaunlichen Fähigkeiten. In manchen Geschichten fliegen sie sogar.“
„Genau“, ruft Emma aufgeregt, „Sie zaubern und haben Einhornstaub, der von ihrem Horn stammt.“
„Und woher weißt du das?“, fragt Opa lächelnd.
„Das habe ich gelesen“, verteidigt sich Emma überzeugt.
Opa lächelt. „Das Horn am Schädel ist sein Erkennungszeichen. Es gibt allerdings viele Lebewesen mit Hörnern, die in vielfacher Weise auf den Köpfen getragen werden. Aber fast alle gehörnten Wesen, die man kennt, haben zwei Hörner. Selbst geheimnisvolle, nie gesehene Hornwesen, wie zum Beispiel der Teufel haben zwei Hörner auf dem Kopf.“
Lisa wendet empört ein: „Du kannst doch ein Einhorn nicht mit dem Teufel vergleichen. Einhörner sind gut, der Teufel nicht.“
„Du hast recht“, gibt Opa zu, „aber es sind beides übernatürliche Wesen, die sich allerdings gar nicht leiden können.“
Emma und Lisa stellen sich mit weit aufgerissenen Augen einen Streit zwischen Teufel und Einhorn vor.
„Manche sagen, Einhörner gab es früher einmal, als die Zeiten noch mystisch waren“, sagt Opa und wendet sich den beiden im-mer aufgeregteren Mädchen zu. „Die Frage ist jedoch, ob es überhaupt jemals mystische Zeiten gab? Wie sind denn die Zeiten heute? Nicht magisch? Wahrscheinlich waren die Zeiten immer schon so. Oder sie waren es nie. Sonst müssten die Menschen doch in der Lage sein, Magie zu erkennen. Dazu sind die wenigsten in der La-ge.“

Emma und Lisa nicken nachdenklich, während Opa aufsteht. „So, jetzt muss ich mich aber mal bei Oma blicken lassen. Sie hat mich wahrscheinlich schon bei der Polizei als vermisst gemeldet.“ Lächelnd verlässt er Emmas Zimmer. Für die zwei Mädchen ist das Thema damit aber nicht beendet. Sie unterhalten sich noch den ganzen Nachmittag lang über Einhörner, magische Geschöpfe, Ziegen und Pferde, aber vor allem über die Einhornstraße Nummer fünf.


Emma und Lisa forschen


Den beiden Freundinnen gehen die Einhörner nicht mehr aus dem Kopf. Sie denken an nichts anderes, selbst wenn sie in der Schule sind und dem Unterricht folgen sollten. Täglich nach der Schule hocken sie zusammen und suchen alle verfügbaren Informationen über Einhörner. Durch das Gespräch mit Opa wissen sie schon eine Menge. Es gibt aber viele widersprüchliche Aussagen. Existieren Einhörner nun wirklich oder nicht? Ihre Nachforschungen führen zu keinem eindeutigen Ergebnis, was die zwei Mädchen ziemlich frustriert.
Seit dem Gespräch mit Opa ist mittlerweile eine Woche verstri-chen. Die beiden Freundinnen sitzen in Lisas Zimmer und fassen einen Entschluss.
„So kommen wir doch nicht weiter, wenn wir herauskriegen wollen, was es mit den Einhörnern auf sich hat“, stöhnt Lisa und klappt genervt ein dickes Buch zu. „Außerdem wird es langsam langweilig, immer nur über Einhörner zu lesen. Ich möchte etwas mit Einhörnern erleben.“
„Dazu müsste man aber wissen, ob es sie gibt“, wirft Emma ein.
Lisa stimmt zu: „Und man müsste wissen, wo sie zu finden sind.“ Man sieht ihr an, dass sie scharf nachdenkt. Schließlich formt sie ihren Gedanken weiter: „Wir sollten dort suchen, wo wir schon einen passenden Ansatz haben.“
Emma springt auf. „Ich hab’s“, ruft sie aufgeregt, „wir schauen uns das Haus Nummer fünf in der Einhornstraße einmal gründlich an. Dort finden wir vielleicht Hinweise.“
„Genau, das liegt doch auf der Hand. Wo der Einhornkopf an der Tür so deutlich darauf hinweist, muss einfach etwas über Einhörner und deren Welt zu erfahren sein. Da müssen wir hin!“ Lisa ist überzeugt und vor Aufregung springt sie begeistert auf und ab.
Gesagt, getan, gleich werden Pläne geschmiedet. Wie kommen sie alleine in die Stadt? Von den Erwachsenen wollen sie niemanden nach Begleitung fragen. Sie müssen die geplante Forschungsreise unbedingt ohne sie unternehmen. Zu Fuß ist der Weg zu weit. Mit dem Fahrrad dürfen sie nicht alleine in die Stadt fahren. Bleibt nur der Bus. Emma fährt schon lange mit dem Bus zur Schule und kennt sich aus. Zwar sind die Mädchen bereits acht, fast neun Jahre alt, aber Lisa ist noch nie alleine Bus gefahren. Je länger die beiden darüber nachdenken, desto schwieriger erscheint es ihnen, eine Erlaubnis zu bekommen.
„Wir dürfen niemals mit dem Bus in die Stadt fahren“, orakelt Lisa.
Emma ist noch nicht überzeugt. „Ich weiß nicht. Ich fahre ja schon alleine Bus und ich durfte auch mit Cora und dem Fahrrad ohne Begleitung in die Stadt. Ich bekomme bestimmt die Erlaubnis, falls ich fragen würde.“
„Ich sicher nicht. Wenn wir fragen, bekomme ich ein Nein und dann ist unser Plan geplatzt“, befürchtet Lisa.
Ratlos sitzen die zwei Mädchen in Lisas Zimmer und wissen nicht so recht, wie sie weiterkommen sollen. Doch dann springt Lisa auf und flüstert: „Und wenn wir gar nicht erst fragen? Gehen wir auf Nummer sicher und fahren ohne Erlaubnis in die Stadt.“
Emma schaut überrascht. So etwas hat sie noch nie gemacht. Tatsächlich traut sie sich nicht, ohne den Segen ihrer Eltern in die Stadt zu fahren. Lisa bemerkt Emmas Zurückhaltung und fügt hin-zu: „Du willst doch auch in die Stadt, oder?“
Emma nickt verunsichert.
„Wenn wir fragen, sagt meine Mama sicher nein und dann können wir unsere Einhorn-Forschung vergessen. Ich habe keine Lust, noch ein Jahr zu warten, bis wir alleine in die Stadt dürfen“, erklärt Lisa ihren gewagten Vorschlag.
Emma ist zwar immer noch unsicher, aber sie befürchtet auch, dass sie bei einem Nein ihren Plan aufgeben müssten. Sie könnten zum Beispiel Opa mitnehmen. Dann dürften sie sicher in die Stadt. Sie möchten aber alleine ohne Erwachsene forschen. Emma überlegt hin und her und überwindet sich schließlich, auch wenn sich ihr Gewissen meldet: „Na gut“, flüstert sie, „fahren wir heimlich.“
Lisa lacht und ist zufrieden mit der gemeinsamen Entscheidung. Emma hat jedoch ein blödes Gefühl im Bauch.
„Jetzt muss ein Plan her, wie wir in die Stadt und wieder zurückkommen, ohne dass jemand etwas bemerkt“, sagt Lisa leise.

 

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